Fratellino

von Sandra


Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen, bis er im Herzen vollkommen verwelkt? Wie viele Tränen kann ein Mensch vergießen, bis er innerlich völlig vertrocknet? Hier stehe ich nun und weiß nicht mehr weiter. Wie unfair die Welt ist, bemerke ich erst jetzt. Wie unfair, dass du jetzt dort bist. Ich ertrage es nicht. Ich ertrage nicht, dass du nicht mehr da bist. Ich habe das Gefühl innerlich zu zerbrechen. Kleiner Bruder, ich kann nicht mehr.

Nun stehe ich hier an deinem Grab. Mama neben mir und voller Tränen. Ich sollte mich um sie kümmern, doch ich kann mich selbst nicht mehr halten. Meine Beine sind weich und voller Schwäche und ich habe keinen Grund mehr mich zu halten. Ich lege die Rose in meiner Hand auf deinen Sarg und ertrage diesen Anblick nicht. Ich trete einen Schritt zurück, wische mir die Tränen weg und falle Mama in die Arme. Es wird nie wieder wie früher sein.

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Weißt du noch, als wir Kinder waren? Wir waren Träumer und sind in unseren Geschichten versunken. Wir waren an den schönsten Orten der Welt, sind wilden Tieren begegnet und haben örtliche Köstlichkeiten probiert. Wir waren Weltenbummler in unseren Geschichten und der kleine See im Dorf war das weite Meer, das wir mit unseren Schiffen überquerten. Wir schworen uns, dass diese Geschichten irgendwann wahr werden würden. Wir schworen uns, dass wir irgendwann alle sieben Weltmeere überqueren und die hübschen Bauten aus unseren Büchern in echt betrachten würden. Es war so klar, dass wir die wilden Tiere aus den Dokumentationen irgendwann aus der Nähe sehen würden. Es war alles so klar.

 

Weißt du was unfair ist? Dass wir nichts von all dem machen konnten. Dass du gehen musstest. Viel zu früh. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als wir es erfahren haben. Es war der Donnerstag vor deinem 15. Geburtstag. Wir hatten uns gerade auf den Weg gemacht, um den Kuchen für deine Geburtstagsfeier zu kaufen. Ich weiß noch, dass du unbedingt eine Schokotorte haben wolltest und ich darüber gemeckert habe, weil ich eine Kirschtorte wollte. Mama sagte dann nur zu mir, dass es nicht mein Geburtstag sei.

Der Anruf kam, als wir im Auto saßen. Mamas Telefon klingelte und sie bat mich den Anruf anzunehmen. Es war unser Hausarzt Dr. Bianchi. Er erkundigte sich am Telefon nach meiner Mutter. Worum es ging, wollte er mir nicht sagen. Er ließ bloß ausrichten, dass wir möglichst noch heute zur Sprechstunde erscheinen sollten. Es ging um dich. Wir waren uns sicher, dass es Neuigkeiten zu deinem kleinen Zeh gab, den du dir ein paar Tage zuvor im Sportunterricht gebrochen hattest. Wir fuhren also noch schnell die Schokotorte kaufen und machten uns dann auf den Weg zu Dr. Bianchi.

Das Wartezimmer war gefüllt mit kränkelnden Leuten, weshalb ich froh war, dass wir recht zügig an der Reihe waren. Schon als ich mit dir und Mama das Arztzimmer betrat, sah ich diesen Gesichtsausdruck in Dr. Bianchis Gesicht. Es war anders als sonst. „Setzen Sie sich!“, sagte er mit ernster Miene. Er erzählte etwas von einer Auffälligkeit im Blut, das sie ihm routinemäßig abgenommen hatten. Die Wörter, die er danach sagte, schallen in meinem Ohr immer wieder nach. „Ihr Sohn ist an Leukämie erkrankt.“

 

Die Worte waren wie ein Schlag, denn ich kannte sie bereits. Ich hatte sie schon einmal gehört. Vor vielen Jahren, als ich bei Mama im Arztzimmer auf dem Schoß saß. Du warst damals bei Oma geblieben. Ich erinnere mich, dass Mamas Beine schwach wurden und sie anfing zu weinen. Papa hielt ihre Hand und ich war einfach nur geschockt. Ich weiß nicht genau warum ich geschockt war, denn damals verstand ich die Worte des Arztes noch nicht, aber ich hatte Mama noch nie so weinen sehen. Das hatte mir Angst gemacht.

Da saßen wir, in diesem kühlen Arztzimmer und ich schaute dich an und du hattest diesen Blick. Diesen Blick voller Angst. Als wolltest du aufgefangen werden und gerettet werden aus diesem endlosen Fallen. Mama schlug die Hände vor das Gesicht und griff nach dir. Doch du schienst völlig starr zu sein. Keine Träne floss aus deinen Augen. Die nächsten Wochen waren schwer. Du wurdest immer schwächer. Dein Gesicht verlor an Farbe. Es ging alles so schnell. Wir redeten oft. Wir weinten oft gemeinsam. Wohl wissend, was kommen würde. Du erzähltest mir jeden Tag, wie viel Angst du hättest, dass es dich so sehr schmerzt. Ich musste stark für dich sein. Ich hielt dich, obwohl ich selbst gehalten werden wollte.

 

 

 

Zwei Tage vor deinem Tod taten wir etwas, das wir seit Jahren nicht mehr getan hatten. Wir tauchten in unsere Geschichte ein. Wir besuchten ein letztes Mal gemeinsam die Orte aus unserer Kindheit. Begegneten den wilden Tieren im warmfeuchten Amazonas und bestaunten die Bauwerke aus längst vergangenen Zeiten. Es war wie früher. Wir waren versunken und es gab nichts außer uns und unsere Abenteuer. Der Tag deines Todes war ein sonniger Tag. Die Sonne schien in dein Zimmer, als du deinen letzten Atemzug durch deinen Mund gleiten liest. Mama und ich hatten deine Hand gehalten, bis zuletzt.

 

Fratellino, ich vermisse dich. 


*Gerne kannst du diese Kurzgeschichte für deinen Unterricht nutzen! 

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